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WIE DIE KIRCHE UND IHRE BILDUNGSHÄUSER DEMOKRATIE ALS „AUSRICHTUNG AUF DEN ANDEREN“ MITGESTALTEN KÖNNEN

Interview mit Dr. Johannes Sabel, Direktor der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus in Münster, über die Notwendigkeit der Demokratiebildung und was die außerschulischen katholischen Bildungseinrichtungen dazu beitragen können.


Herr Dr. Sabel, die Demokratie als „die schlechteste aller Regierungsform mit Ausnahme aller anderen“, wie es Winston Churchill einmal sinngemäß formulierte, ist seit Jahrzehnten in den westlichen Ländern die vertraute Lebensform. Warum wird sie dennoch zunehmend angefragt?

Wir merken seit etwa zehn Jahren, dass die demokratischen Errungenschaften nicht so selbstverständlich sind, wie es uns lange schien. Der Zuspruch zu autoritären Politikerinnen und Politikern beispielsweise in den USA oder Brasilien, in Ungarn, Polen oder Italien sowie das Erstarken der AfD in Deutschland machen deutlich, dass eine demokratische, offene und plurale Gesellschaft auf labilen Füßen steht. Das liegt zum einen daran, dass die demokratische Gesellschaftsform wesentlich auf dem Versprechen beruht, dass alle mitgestalten und teilhaben können und dass es eine gerechte Gesellschaft ist. Viele Menschen machen diese Erfahrung aber nicht mehr. Sie erfahren die Welt stattdessen als etwas, in dem sie nicht vorkommen. Diese Ohnmachtserfahrungen haben auch viel mit der auseinandergehenden Schere zwischen Arm und Reich zu tun und damit, dass die Demokratie als Lebensform – und nicht nur als ein eher bürokratisches Verfahren – 
kaum eingeübt wird. Zum anderen braucht eine Demokratie transparente, offene und auf sachliche Richtigkeit angelegte Meinungsbildungsprozesse. Letzteres setzt eine 
gemeinsame Öffentlichkeit, eine gemeinsame öffentliche Wahrnehmung von Fakten und eine ebenso öffentliche Diskussion um deren Interpretation voraus. Heute aber gibt es viele scheinbare 
und individuelle Wahrheiten. Menschen erschaffen sich insbesondere im Internet eigene Resonanzräume und Blasen. In der Folge gelingt der produktive 
Streit zwischen Menschen und Gruppen immer weniger, weil die individuellen Wahrheiten nicht mehr in eine gemeinsame Diskussion und damit auch in eine Überprüfung gehen. Produktiver Streit ist aber ein Grundelement der Demokratie. Statt dessen gibt es heute oft den zerstörerischen, ausgrenzenden, diffamierenden Streit. Fatal ist auch die enge Verschlingung von Demokratie und Kapitalismus, wie man sie beispielhaft in den USA, aber auch in Deutschland beobachten kann. Tatsächlich sind die Versprechen der Demokratie – Teilhabe, Gerechtigkeit, Solidarität – nicht die Versprechen des Kapitalismus. Demokratie funktioniert nicht nach dem Recht des Stärkeren, sondern setzt auf eine geteilte, gerechte Weise, die Welt zu gestalten und von ihr zu profitieren. Die Demokratie muss sich nun in einer globalen und hochdynamischen Wirtschaft bewähren, sie muss sozusagen aus den Kinderschuhen herauswachsen, die ihr in einer seit der Gründung der Bundesrepublik weitgehend guten, ja immer besseren wirtschaftlichen Lage, gepasst haben. 


Was müssen überzeugte Demokraten in dieser Situation verstehen und tun?

Wir müssen Demokratie als die Ausrichtung an dem oder der anderen begreifen. Die explizite Form dieser Haltung ist der Sozialstaat mit seinem Solidaritätsversprechen. Die implizite Form ist die Grundannahme, dass wir im anderen einem einmaligen, unwiederholbaren, also absolut wertvollem Gegenüber begegnen, dem wir immer und grundsätzlich Respekt und Anerkennung schulden. Zur politischen Bildung in diesem Sinne gehört es dann auch, Menschen und Gruppen eine Stimme zu verleihen, die so gut wie keine Lobby haben. 
Dazu zählen beispielhaft Menschen am Ende ihres Lebens, Menschen mit Behinderungen, Menschen, die geflohen sind, Menschen in Krankheit und Menschen, denen die Mittel fehlen, an der Gesellschaft teilzunehmen. Echte Demokratinnen und Demokraten entwickeln eine Leidenssensibilität für die, die sich aus unterschiedlichsten Gründen 
nicht selbst artikulieren können. Eine Demokratie, die nicht leidensempfindlich ist, ist keine Demokratie im vollen Sinne.


Welche Rolle kommt insbesondere Christinnen und Christen in der und für die Demokratie zu?

Gerade im Hinblick auf die Demokratie beinhaltet die Kirche viele Chancen und damit auch die Möglichkeit, nicht nur resigniert auf das Wegfallende der Kirche zu schauen. Christinnen und Christen können dazu beitragen, Demokratie im oben skizzierten Sinne aktiv zu erarbeiten und zu gestalten. Auch, wenn das auf den ersten Blick widersprüchlich scheint: Die Kirche ist von ihren Grundlagen her Quellort, nicht das Gegenteil von Demokratie. Die jüdische-christliche Theologie fußt auf dem Wissen und der Erfahrung, dass die Verletzlichkeit des Einzelnen oder der einzelnen Gruppe der Maßstab des Handelns ist und dass auch die Teilhabe des schwächsten Glieds am Zusammenleben ermöglicht werden muss. Das ist das Genuine, was das Christentum in die Demokratie einzubringen hat, und es ist zugleich das, was eine Demokratie in ihrer „Herzkammer“ auszeichnet. Sowohl Kirche als auch Demokratie richten sich von ihrem Wesen her an den Erfahrungen von Empathie und Mitleidenschaft aus. Die Demokratie braucht daher eine Kirche des Evangeliums, weniger eine Kirche, der es um institutionellen Erhalt geht. Gott geht es – wie in vielen biblischen Geschichten geschildert – um Menschen, die Erfahrungen von Hoffnungslosigkeit, Ausgeschlossensein, Verzweiflung machen. In und aus Liebe Gerechtigkeit herzustellen, so wie es die biblische Überlieferung formuliert, ist essenziell für die Demokratie. Das können die christlichen Kirchen wie wenige andere Religionen einspeisen. 
Denn kein anderer Gott macht sich selbst so klein wie der christliche und teilt die Erfahrungen des Leidens, der Ausgrenzung, des Scheiterns und des Todes mit den Menschen. ie Kirche hat deshalb eine besondere Verantwortung für Menschen mit Ohnmachtserfahrungen, auch etwa für solche, die genau aus Erfahrungen von Wirkungslosigkeit und Ohnmacht die AfD wählen. Wir müssen uns mit deren Beweggründen auseinandersetzen: Warum sind Menschen bereit, sich einer Partei anzuschließen, die Angst fördert und Feindbilder bedient? Menschliche Erfahrungen, die zu so starken Reaktionen führen, müssen wir sehr ernst nehmen. 


Was können katholische Bildungseinrichtungen zur Demokratieförderung als christlichem Auftrag beitragen? 

Bildungseinrichtungen können in Formaten und mit Inhalten demokratische Emotionen ansprechen. Sie können an diese appellieren: an Solidarität, an die Fähigkeit, sich vom Leid anderer anrühren zu lassen, Verantwortung für Fernstehende, Abseitsstehende zu übernehmen, ja, an eine „globale Spiritualität“ als die Erfahrung der Verbundenheit in einer einzigen großen Menschheitsfamilie. Hier geht es um die Verbindung von Haltungen und Kommunikationsweisen – also der Beziehungs- und Wahrnehmungsqualität, die wir in den Häusern praktizieren – mit den Inhalten, die Erkenntnis und Wissen über Grundlagen und Wege für eine demokratische, offene, plurale Gesellschaft vermitteln. Und damit Pseudoargumentationen von Demokratie-Gegnern keine Chance haben, müssen Bildungseinrichtungen Orte sein, an denen man heiße Eisen anfasst. Eine Demokratie braucht Orte, an denen Dilemmata – etwa auch zwischen Sozialsystem und Zuwanderung, zwischen demokratischen Grundwerten und wirtschaftlichen Zielen – angesprochen und Lösungen dafür angestoßen werden.


Wie setzen Sie diesen Auftrag konkret im Franz Hitze Haus um? 

Konkret haben wir die Kampagne „Streitet Euch!“ gestartet. Dabei geht es in verschiedenen Formaten um Orte, Formen und Ergebnisse des konstruktiven Streits. Denn ein solcher Streit ist nichts Negatives, sondern in einer Demokratie nötig. Wir werden mit Politikerinnen und Politikern möglichst eng ins Gespräch kommen, etwa in dem neuen Format „ThekenTalk“: Warum entscheiden sich junge Menschen, in die Politik zu gehen? Wir gehen der Frage nach, welche Menschen warum die AfD wählen und was der „Wahrheitsgehalt“ von AfD-Positionen ist, und wir werden uns anlässlich seines 75. „Geburtstages“ mit dem Grundgesetz beschäftigen. Uns ist wichtig, nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Form des Zusammenwirkens ein offener und wahrnehmungsstarker Diskursort zu sein. Dafür gründen wir Resonanzgruppen, die aus Entscheidern und Akteuren in bestimmten gesellschaftlichen Feldern bestehen – etwa in der Bildung, in 
Kirche und Religion, Wissenschaft und Politik. Entscheidend für die Akademie ist, diese zusammenzubringen, um relevante Herausforderungen zu identifizieren und offen über mögliche Lösungen ins Gespräch zu kommen. Dabei bringt sich die Akademie auch mit eigenen Ansätzen ein. Wir wissen, dass wir bei bestimmten Themen nicht an die – sozusagen – „Betroffenen“ herankommen. Viele der stimmlosen Gruppen, die sich in unserer Gesellschaft nicht artikulieren, werden wir nicht direkt ins Haus holen können. Aber wir können eben mit Akteuren, Entscheidern und Multiplikatoren etwa in den Bereichen Armut, Wohnen, Bildung, Migration, Integration nach Wegen suchen, zu besseren Lebensbedingungen, besseren 
Teilhabechancen, besseren Lebensperspektiven für Menschen zu kommen.

 

Das Interview führte Anke Lucht.

In: Jahresbericht 2023 der Katholischen Erwachsenen-, Familien- und Jugendbildung im Bistum Münster