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Kirche+Leben-Interview: Warum hat Gott mit Demokratie zu tun, Johannes Sabel?

Vieles vermeintlich Selbstverständliche gerät ins Wanken – politisch, gesellschaftlich, kirchlich. Wo können sich Menschen miteinander verständigen? Zum Beispiel im Franz-Hitze-Haus in Münster, das Johannes Sabel seit einem halben Jahr leitet. Warum er diesem „Durchlauferhitzer“ Großes zutraut – und was die Demokratie der Kirche zu geben hat.

 

Herr Sabel, im Vorwort des neuen Akademieprogramms des Franz-Hitze-Hauses stellen Sie die Frage, ob wir Gott verloren haben oder ihn losgeworden sind. Warum beginnen Sie Ihr erstes Programm mit dieser Frage?

Wir beschäftigen uns in Kirche intensiv mit der Krise der Kirche – und ich vermute nicht nur deswegen, weil wir in einem Umbruch sind, sondern auch, weil es leichter ist, über Strukturen zu reden als über eine grundlegendere Krise: die Gotteskrise. Warum ist Gott offenbar für viele Menschen in der westlichen Welt nicht einmal mehr frag-würdig? Sondern schlicht überflüssig oder vergessen? Ich halte das für eine ernstzunehmende Frage, die die Kirche auch kritisch an sich selbst zurückstellen muss und die so auch unser Programm prägt. Ich bin der Überzeugung, dass wir von einer heute neu gestellten Gottesfrage aus zu Kernfragen unseres Zusammenlebens gelangen: Geht es in der Gottesfrage vielleicht gar nicht zuerst darum, wer oder was oder wo Gott ist, sondern um die Konfrontation der erfahrenen Wirklichkeit mit den biblischen Verheißungen auf Gerechtigkeit, Solidarität, Teilhabe und Lebensmöglichkeiten für alle Menschen? Die Gottesfrage wäre dann also nicht mehr Richtung Himmel zu stellen, sondern eine gesellschaftlich akute Frage: Wo und warum erfahren Menschen nicht die Würde, die Lebensmöglichkeiten, die Gerechtigkeit und die Wahrnehmung, die ihnen laut jüdisch-biblischem Gottesbild unbedingt zukommen?

Ein anderer Schwerpunkt, den Sie setzen wollen, ist die Krise der und der Umgang mit Demokratie. Was hat das mit Gott zu tun?

Die Frage nach Gott ist, wie schon angedeutet, auch eine Frage nach konkreten Lebensbedingungen. Diese Fragerichtung hat eine lange Tradition. In Judentum und Christentum zeigt sich die Dynamik des „Sich-Einmischens“ Gottes. Im Judentum wird das zum Beispiel mit der „Einwohnung Gottes“ in der Welt („schechina“) beschrieben. In Fortführung dieser jüdischen Vorstellung der Gottespräsenz in der Welt zeigt im Christentum die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, dass es um einen Gott in den konkreten weltlichen Verhältnissen geht. Hier, „zwischen den Kochtöpfen“ und „in den Straßen“ lebt und wirkt er.

Die Verhältnisse, in die hinein die Gottesfrage heute gestellt werden muss, sind in der westlichen Welt von demokratischen Gesellschaften geprägt. Und: Die Demokratie transportiert Ansprüche, die mit den Verheißungen der jüdisch-christlichen Überlieferung verbunden sind: Teilhabemöglichkeit, Lebensperspektiven für jede und jeden, Gerechtigkeit, gleiche und unveräußerliche Würde. Diese Versprechen der Demokratie sind Weiterentwicklungen des jüdisch-christlichen Erbes hinein in eine konkrete gesellschaftliche Gestalt.

Es ist daher Verantwortung von Theologie und Kirche, diese Demokratie zu begleiten im Horizont eines jüdisch-christlichen Gottes, der sich „einmischt“, der parteiisch ist, der sich solidarisiert. Und vor diesem Horizont gilt es dann auch kritisch danach zu fragen, inwieweit wir Demokratie schon vollumfänglich realisiert haben – oder wichtige Versprechen der demokratisch-freiheitlichen Gesellschaft an ihre Mitglieder noch auf Realisierung warten.

Welche Rolle spielen Themen, die sich mit Reformen der katholischen Kirche beschäftigen?

In unserem Programm widmen wir uns primär Fragen, die uns heute gesellschaftlich herausfordern und für ein gelingendes Zusammenleben vor Ort aber auch global von Bedeutung sind. Diesen Themen nähern wir uns mit einer jüdisch-christlichen Perspektive. Denn die Kirche, deren Teil wir ja als Akademie sind, ist kein Selbstzweck, sondern eben für diese Welt da. Da wir nun aber als Kirche in diese gesellschaftlichen Fragen hineingehen, sind Rückfragen an Kirche immer auch notwendig, sonst wird jede Diskussion unglaubwürdig. Konkret wird dies in der Auseinandersetzung mit Demokratie:  Die Frage, was Kirche heute einer Demokratie geben kann, bedeutet zugleich danach zu fragen, was Demokratie der Kirche geben kann.

Zugespitzt formuliert: Es könnte sein, dass die freiheitlich-demokratische Gesellschaft wichtige Botschaften des Evangeliums heute für die Kirche erst sichtbar macht und sie in die Kirche „zurückträgt“ – Evangelisierung „von außen“ wäre das dann. Insbesondere zeigt sich dies in der Forderung, die uneingeschränkte, universale Gültigkeit der Menschenrechte auch in der Kirche vollumfänglich zu realisieren. Da werden dann Fragen nach dem Zugang zu Ämtern, der Gleichrangigkeit von Geschlechtern, geschlechtliche Vielfalt, sexuelle Orientierung sowie von Lebensweisen, die nicht in das klassische Bild der Familie gehören, wichtig.

Was ist für Sie die Akademie Franz-Hitze-Haus?

Sie ist – und soll noch mehr – ein „Durchlauferhitzer“ sein im Ringen um gesellschaftlichen Zusammenhalt, um Zukunftsperspektiven für alle Menschen und Gottsuche in säkularen Zeiten – in Münster, im Bistum, vielleicht auch darüber hinaus. Sie ist ein Ort, wo Menschen die Erfahrung machen können: Ich erlebe eine Streitkultur, die im Streit das Gegenüber anerkennt, gerade in der Andersheit besonders wertschätzt – und es nicht verbal oder emotional „vernichtet“, wie es heute verbreitet ist.

Sie ist ein Ort, an dem Hoffnung entstehen kann aus der Erfahrung heraus, dass gemeinsames Denken und gemeinsam erlebte Zeit Köpfe und Herzen bewegen und Veränderungen herbeiführen können. Wunderbar wäre es, wenn erkennbar würde, dass wir in der Akademie in all dem, was wir tun und fragen, von einer Überzeugung getragen sind: Dass wir gerade im offenen, freien, kritischen Denken und Sprechen über die Herausforderungen, die uns als Einzelne und als Gesellschaft heute angehen, auch Gott und seinem Reich auf der Spur sind.

Sie haben in New York am Leo Baeck Institute gearbeitet, das sich mit der Geschichte und Kultur des deutschsprachigen Judentums beschäftigt, und sich auch an anderen akademischen Orten mit der christlich-jüdischen Tradition auseinandergesetzt. Warum? Wie prägt Sie das?

In meinem Studium in Münster lag der Ausgangspunkt: Können wir nach der Shoah noch weiter von Gott sprechen? Kann es ein christliches Reden über einen allmächtigen, gerechten, rettenden Gott noch geben, wenn gleichzeitig aus einer christlich durchsättigten Kultur und Geschichte heraus viele Millionen Menschen in einer bürokratisch und technisch perfektionierten Weise ermordet wurden? Diese Erkenntnis, dass es hier um einen Zivilisationsbruch geht, der alles in Frage stellt, der das Christentum anfragt und nach dem Judentum fragt, hat mich dazu gebracht, besser verstehen zu wollen, was „das Judentum“ eigentlich ist. Ich wollte insbesondere erkennen, was wir in der europäischen Mehrheitskultur, in der katholischen Kirche und auch in der Theologie abdrängen, nicht vertragen, nicht ernstnehmen am Judentum.

Woran denken Sie?

Das Judentum hat einen besonderen Wahrheitsbegriff. Um zu erkennen, was „wahr“ ist, bedarf es im rabbinischen Judentum der ständigen und gemeinschaftlichen Diskussion. Die Rabbinen sagen: „Wende sie (die Torah) um und um, denn alles ist in ihr!“ Der Mensch wird darin als Mitarbeiter Gottes sehr ernst genommen, zugleich wird die Kontextgebundenheit und Geschichtlichkeit von Wahrheitsaussagen betont. Es geht nicht um abstrakte und eher allgemeine Wahrheiten „an sich“.

Das Judentum kennt so auch kein Glaubensbekenntnis. Es geht sehr stark darum, auf dem Boden der Überlieferung und insbesondere der Torah konkrete lebenspraktische Fragen zu beantworten. Auch wenn es oft religiöse Fragen sind, die uns heute seltsam vorkommen – etwa Speisevorschriften oder die Sabbatruhe –, so wird doch deutlich: Nicht die zentral „entschiedene“ und abschließend gültige Wahrheit, sondern die vor Ort und immer weiterzuentwickelnde Auseinandersetzung zwischen Schrift und konkreten lebenspraktischen Fragen führen zu einer Wahrheit, ich würde besser sagen: Entscheidung über das, was richtig und angemessen ist, die den Menschen konkret dient. Ich glaube, es würde uns auch heute kirchlich helfen, wenn wir noch stärker beherzigen würden, dass Jesus in einer damals schon hoch diskursiven Form von religiös-theologischem Denken und Auslegen als Jude groß geworden ist.

Was hat Sie bewogen, in einer Zeit großen Relevanzverlustes der Kirche die Leitung einer katholischen Akademie zu übernehmen?

Das ist eine sehr persönliche Frage. Kurz gesagt: Weil es nicht um Kirche geht, sondern um etwas Größeres und Großartiges: um die Wesen, die das Geheimnis, von dem her wir kommen, das uns umgibt und das uns im Innersten ausmacht, erahnen können und daraus handeln können – um Menschen. Daran tagtäglich teilzuhaben, ist eine grandiose Aufgabe. Und auch das, vielleicht gerade das, ist Kirche mit Relevanz und Zukunft!

Interview: Markus Nolte

zum Artikel bei Kirche + Leben

Johannes Sabel ist seit November 2023 Direktor der Katholisch-Sozialen Akademie Franz Hitze Haus in Münster. Der heute 50-Jährige studierte Literaturwissenschaft und katholische Theologie in Münster, promovierte in Tübingen. Er forschte in den USA (Leo Baeck Institute, Jewish Theological Seminary), in Mitteleuropa (Krakau, Prag, Warschau) und der Schweiz (ETH Zürich) zum modernen deutschsprachigen Judentum und zur politischen Theologie.