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nach.gefragt - Prof. Dr. Norbert Lammert

Wie gestaltet sich das Verhältnis von Demokratie und Kirche?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Präsident des Deutschen Bundestages a. D.) beantwortet diese Frage wie folgt: 


Das Spannungsverhältnis von Religion und Politik ist beinahe so alt wie die Menschheitsgeschichte. 
Kirchen und Staat sind seit Jahrhunderten vielfältig miteinander verbunden und in modernen, demokratischen Verfassungen zugleich deutlich voneinander getrennt. Deshalb kommt es nach den Erfahrungen der Reformation und den Errungenschaften der Aufklärung weniger darauf an, etwas Neues herauszufinden, sondern es geht eher darum, gefestigte Einsichten in einer Weise zu ordnen und zu praktischen Schlussfolgerungen zu führen, die zu selten stattfinden bzw. zu oft verdrängt werden.

Die Ausgangsfrage könnte lauten: Wie viel Religion erträgt eine moderne, aufgeklärte, liberale Gesellschaft? Die nach meinem Verständnis sofort dazugehörige Frage lautet: Wie viel Religion braucht ein demokratisch verfasster Staat? Beide Fragen sind ebenso schwierig wie wichtig. Auf den ersten Blick schließen sie sich beinahe aus, bei sorgfältiger Betrachtung aber sind sie unabhängig voneinander nicht zu beantworten.

Politik und Religion sind zwei unterschiedlich bedeutende, formell oder informell mächtige, rechtlich oder faktisch bindende Gestaltungsansprüche gegenüber einer Gesellschaft und ihren Mitgliedern. Sie können einander nicht gleichgültig sein, aber sie sind gewiss nicht identisch. Die Unterschiede zwischen diesen beiden Gestaltungsansprüchen sind nicht weniger bedeutsam als die Gemeinsamkeiten.

Religionen handeln von Wahrheiten, Politik von Interessen. Das eine ist so zentral wie das andere, und beides ist offenkundig grundverschieden. Zu den Ergebnissen – gewiss auch zu den Errungenschaften – unserer aufgeklärten Zivilisation gehört die Einsicht in die Aussichtslosigkeit einer abschließenden Beantwortung der Wahrheitsfrage. Diese Einsicht macht Politik nötig und Demokratie möglich. Auf der Basis absoluter Wahrheitsansprüche ist Demokratie als Legitimation von Normen durch Verfahrensregeln gar nicht möglich. Demokratie setzt die Trennung von Religion und Politik voraus, die es allerdings ohne religiös vermittelte Überzeugungen von der Unantastbarkeit der Würde jedes einzelnen Menschen gar nicht gäbe, was wiederum die Komplexität von Zusammenhängen und Unterscheidungen verdeutlicht – und zugleich den buchstäblich fundamentalen Beitrag, den christlichen Kirchen zu einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft leisten können!

Der legitime Gestaltungsanspruch der Politik wird in der Regel durch Verfassungen definiert, die ihrerseits Ausdruck der Überzeugungen, Orientierungen und Prinzipien sind, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Es gehört zu den vielen, leider weit verbreiteten Missverständnissen unserer Zeit, dass das, was früher einmal die gefestigte gemeinsame kulturelle Überzeugung einer Gesellschaft war, heute von Verfassungen abgelöst sei. Man brauche das eine nicht mehr, weil es jetzt das andere gäbe, und das, was in einer Gesellschaft Geltung habe, sei, werde und müsse abschließend in einer Verfassung niedergeschrieben sein. Das ist sicher nicht falsch, unterschlägt aber, dass Verfassungen nie Ersatz für, sondern immer Ausdruck von Überzeugungen sind, die in einer Gesellschaft Geltung beanspruchen. Jeder gründliche Blick auf moderne wie auf traditionelle Gesellschaften kommt zu dem Befund, dass der innere Zusammenhalt einer Gesellschaft durch Kultur gestiftet wird. Märkte halten Gesellschaften nicht zusammen, Geld schon gar nicht, auch Politik nicht. Politik auch nicht im Sinne eines rechtlich verbindlichen Regelsystems, denn dieses Regelsystem entfaltet seine Plausibilität wiederum nur aus den Kontexten, die ihrerseits nicht politisch, sondern kulturell sind. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Unterschied zwischen traditionellen und modernen Gesellschaften nicht ganz so fundamental, wie gelegentlich behauptet wird. Inneren Zusammenhalt stiften kulturelle Überzeugungen. Oder umgekehrt: Wenn dieses Mindestmaß an kulturellen Gemeinsamkeiten verloren geht, erodiert der Zusammenhalt einer Gesellschaft.

Rund achtzig Prozent der heute auf diesem Globus lebenden Menschen gehören einer Religionsgemeinschaft an. Weltweit sind die Religionen nie aus der Politik verschwunden. Wir erleben vielmehr nicht nur eine erstaunliche globale Revitalisierung der Bedeutung von Religionen im öffentlichen Raum – insbesondere außerhalb Europas. Wir erleben auch eine bemerkenswerte, teilweise erschreckende Politisierung und Instrumentalisierung von Religion mit fundamentalistischen Ansprüchen. Wir haben es heute also mindestens mit zwei sehr unterschiedlichen Formen von Religiosität in Zeiten der Globalisierung zu tun: Die eine ist die persönliche Religiosität im Rahmen respektierter rechtsstaatlicher Demokratie als ein geschützter Raum persönlicher Entfaltung, und das andere ist die politisierte Religion mit fundamentalistischen Machtansprüchen, die inzwischen eine bemerkenswerte Verbreitung weltweit erreicht hat.

In Deutschland gehörten vor 75 Jahren, als das Grundgesetz beraten und mit dem eindrucksvollen Bekenntnis der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ in der Präambel verabschiedet wurde, über 90 Prozent der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen an. Im Jubiläumsjahr 2024 sind es erstmals weniger als 50 Prozent. Das hat Folgen für die gesellschaftliche Relevanz wie die politische Wahrnehmung. Beinahe überall lässt sich das beobachten: Schwangerschaftskonfliktregelung, Präimplantationsdiagnostik, Beschneidung, Kopftücher, Kruzifixe im öffentlichen Raum usw. Bei einer Reihe von Fragen ist der religiöse Zusammenhang offenkundig oder gar unbestreitbar und weder die eine noch die andere Seite kann sich ihrer jeweiligen Verantwortung entziehen. 

Bei den immer drängenderen Nachfragen nach (demokratischer) Mitwirkung in der Kirche ist zu bedenken, dass es neben den ethisch-moralischen Grundsatzfragen auch und gerade in einer Kirche Organisationsfragen gibt. Kirche ist nicht nur eine spirituelle Institution, sondern auch eine Organisation mit vielen ganz praktischen Problemen und Herausforderungen. Dass für die Beantwortung solcher Organisationsfragen – von der Abgrenzung von Kirchengemeinden, ihrer Größe und ihrem Zuschnitt bis zu damit verbundenen Finanzfragen – theologische Kompetenz die herausragende Qualifikation sei, wird niemand ernsthaft behaupten wollen. Hier geht es weniger um Glauben, sondern vielmehr um Vernunft. Auf der anderen Seite bestehen ethisch-moralische Grundsatzfragen, für die man andere Partizipationsformen braucht als für die praktischen, organisatorischen Dinge, die auch mit der Lebens- und Überlebensperspektive von Kirchen- und Religionsgemeinschaften verbunden sind.

Die Verantwortung, die wir Christen nicht nur als Staatsbürger im politischen System unserer Gesellschaft haben, und die Verantwortung, die wir in unseren jeweiligen Kirchen haben, können sich wechselseitig nicht ersetzen, aber ergänzen. Die Wahrnehmung der einen Verantwortung schließt die andere nicht nur nicht aus, sondern setzt sie in einem gewissen Umfang geradezu voraus.


Prof. Dr. Norbert Lammert war als CDU-Politiker langjähriges Mitglied des Deutschen Bundestages (1980 bis 2017). In dieser Zeit bekleidete er unter anderem von 2005 bis 2017 das Amt des Bundestagspräsidenten. Seit Januar 2018 ist Prof. Dr. Norbert Lammert Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung.