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nach.gefragt - Dr. Christian Müller

Wie gestaltet sich das Verhältnis von Demokratie und Kirche?

Dr. Christian Müller (Akademie Franz Hitze Haus) beantwortet diese Frage wie folgt:

Der Beziehungsstatus ist: „kompliziert“. 
Selbst ist die Kirche – trotz mancher nicht zuletzt in Deutschland schon existierender und zunehmender Möglichkeiten der Mitbestimmung - kein demokratisch verfasstes System. Auch mit Blick auf die Verfasstheit von Staaten zeigte sich die Kirche zunächst äußerst skeptisch gegenüber den sich im 18. und 19. Jahrhundert nach und nach kodifizierenden Menschenrechten und den Entwicklungen hin zu einer zunehmenden Demokratisierung. Paul Zulehner spricht in diesem Kontext von einer „ererbten Demokratieskepsis“ der katholischen Kirche.
 
Hier ist nicht der Ort für eine systematische Abhandlung, aber schon einige wenige Beispiele zeigen die phasenweise tief sitzende Ablehnung: Ein Höhepunkt des Kampfes gegen die Entwicklungen in Richtung Emanzipation und Rechtsstaat ist der „Syllabus errorum“ von Papst Pius IX. (1864). Menschenrechte, vor allem Religionsfreiheit, Demokratie und Freiheit, werden unversöhnlich und kategorisch verworfen. Die enge Verbindung zwischen kirchlicher Hierarchie und autoritären Monarchien im 19. Jahrhundert hat hier ebenso wie die Nähe zu teils blutigen Diktaturen im 20. Jahrhundert ihren Ursprung; beispielhaft seien hier nur Spanien unter Franco oder die Militärdiktatur in Argentinien der 1970er Jahre genannt. Diese Reflexe wirken womöglich in Teilen der Kirche bis heute fort. So scheint es jedenfalls, wendet sich der Blick nach Ungarn oder Polen.
 
Wäre die Geschichte von Kirche und Demokratie hiermit zu Ende erzählt, würden Sie nicht diesen Text auf der Website einer katholischen Akademie lesen, die sich seit über 70 Jahren einer Bildung verschrieben hat, die zum Funktionieren einer pluralen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft beitragen will. Es gab indes zu allen Zeiten in der Kirche auch Kräfte, die sich einer allzu engen Verbindung von Glauben und Herrschaft entgegengestellt haben und die in historisch jüngerer Zeit konstruktiv am Entstehen demokratischer Gesellschaften mitgewirkt haben: Ein gutes Beispiel dafür, wie Katholiken ihre Skepsis und Ablehnung der Demokratie überwunden haben, ist die Zentrumspartei, die zu einer tragenden Säule der Weimarer Republik wurde. 
Zwar dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis (endlich!) das Bekenntnis zu Menschenrechten, zur Trennung von Staat und Kirche und zur liberalen Demokratie Teil der kirchlichen Glaubenslehre wurde. In der Konstitution Gaudium et Spes des 2. Vatikanischen Konzils (1965) fiel dieses dann aber umso entschiedener aus. Der Konzilstheologe Joseph Ratzinger nennt die Pastoralkonstitution Gaudium et Spes „eine Art Gegensyllabus“.
In Deutschland wurde dieses Dokument intensiv rezipiert: Die Bischofskonferenz stellte sich in ihrem Wort „Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft und im demokratischen Staat der Gegenwart“ ohne Wenn und Aber dahinter (1969). Sie tat dies nicht ohne Grundlage auch eigener, früherer Überlegungen: Schon in der Nachkriegszeit hatten es sich beide großen Kirchen zur Aufgabe gemacht, am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft mitzuwirken und (unter anderem) zu diesem Zweck die kirchlichen Akademien gegründet.
 
In dieser Tradition stehen wir noch heute mit unserer Arbeit: Wir verstehen unsere Akademie als Ort zwischen Demokratie als Lebensform und (christlicher) Nachfolgepraxis. Auf Grundlage der christlichen Soziallehre wollen wir Menschen auf ihrem Weg zu informierten, kritischen, mithin mündigen Bürgern eines demokratischen Staatswesens zu begleiten.
 
Vielleicht ist es letztlich doch nicht (mehr) so kompliziert: Gott sei Dank (ist man versucht zu sagen) ist das Verhältnis der Kirche zur Demokratie als Staatsform inzwischen von eindeutiger Bejahung und kritisch-konstruktiver Mitwirkung geprägt. 
 

Dr. Christian Müller ist Politikwissenschaftler und Caritastheologe und leitet als Akademiedozent den Fachbereich "Politik, Gesellschaft, Internationales" in der katholisch-sozialen Akademie Franz Hitze Haus.