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nach.gedacht

Streitet Euch! – ein Plädoyer für mehr Auseinandersetzung

von Paulina Pieper, Fachbereichsleiterin Kath.-Soziale Akademie Franz Hitze Haus 

„Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ (Mt 10,34)
Ein biblischer Satz, über den sich streiten lässt. Jesus, der Friedenfürst, kommt, um Unfrieden zu stiften? Der Jesus der biblischen Erzählungen ist eine der wohl streitbarsten Personen der Geschichtsschreibung. Er handelt friedlich und startet damit eine Revolution. Er bringt Menschen gegen sich auf, indem er streitet, mit seinen Gefolgsleuten, mit Gelehrten, mit Staatsvertretern – und zwar um das, was ihn und die Menschen in einer komplexen pluralen Gesellschaft unbedingt angeht.

Ebenso wie damals scheint auch heute scheint das, was uns unbedingt angeht (Paul Tillich), immer wieder auf dem Spiel zu stehen. Wie sich gemeinschaftliches Zusammenleben in einer komplexen und mehrdeutigen Welt konkret gestalten soll und welche Werte als Grundlage dienen können, wird angesichts zunehmender Individualisierung und Pluralisierung immer wieder angefragt. Je mehr Religionen, Kulturen und Weltanschauungen Teil einer Gesellschaft sein wollen, umso intensiver und konfliktträchtiger gestaltet sich der Aushandlungsprozess um die Spielregeln, die sich eine Gesellschaft geben will. Unsere demokratisch verfasste Grundordnung zielt darauf ab, möglichst viele Menschen an diesem Aushandlungsprozess zu beteiligen, um faire und qualitätsvolle Lebensbedingungen herzustellen. Demokratie braucht allerdings, damit sie lebendig und produktiv sein kann, den öffentlichen Diskurs, sie braucht offene Fragen und konfliktive Positionen, sie braucht Dissens und Widerspruch. Demokratie braucht Streit.

Doch unsere Vorstellung von Streit ist eng an Bilder der Provokation und Nerverei gebunden. Wir kennen den anhaltenden Nachbarschaftsstreit um Grundstücksgrenzen oder Heckenbeschnitt. Jede und jeder weiß in seinem näheren Umfeld wohl um einen Streithammel, um jene zänkische Person, die zu Polemik neigt, ständig Auseinandersetzungen anstiftet und dadurch die Stimmung bei Familienfeiern oder Bürobesprechungen belastet. Gerade im digitalen Raum gehen Streitgespräche oft mit Aggressionen oder sogar emotionaler oder psychischer Gewalt(androhung) einher. Insbesondere dann, wenn im Streit nicht nur Positionen, sondern Haltungen, ja ganze Lebensentwürfe und -praktiken aufeinanderprallen, die unvereinbar scheinen, lauert am Ende der Auseinandersetzung die Gefahr eines nicht mehr zu überwindenden Zerwürfnisses. Die Angst vor dauerhaft unangenehmen Situationen lässt ebenso wie die Anstrengung der Auseinandersetzung konträre Meinungen verstummen, sodass das den öffentlichen Diskurs beeinflussende Narrativ, man dürfe nichts mehr sagen, an Konjunktur gewinnt. Gemeint ist: wer sich kritisch zur Flüchtlingspolitik äußere oder das Genderverbot in Bayern befürworte, laufe Gefahr belächelt, abgestempelt oder ausgegrenzt zu werden. Unsere Vorstellung von Streit ist also an einer destruktiven Form der Auseinandersetzung orientiert, bei der in Wirklichkeit nicht gestritten, sondern gekämpft wird. Wer sich hier beteiligt, wird zum Feind, der zum Schweigen gebracht werden muss, denn Wut loszuwerden tut gut, nicht aber die Wut des anderen abzubekommen (Meredith Haaf).

Aus derartigen Erfahrungen heraus bemühen wir uns sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum, Streit zu vermeiden – und das nicht zuletzt deshalb, weil der Ton bei verbalen Auseinandersetzungen vor allem in digitalen Foren zunehmend rau, unhöflich und aggressiv geworden ist. Wir finden Streit anstrengend, behalten Meinungen für uns, ziehen uns in die jeweiligen Blasen zurück oder grenzen wichtige Themen und Lebensbereiche in öffentlichen Diskussionen und privaten Gesprächen aus. Statt freundlich, aber bestimmt die eigene Meinung zu äußern, wird dann im Sinne einer Konsensfixierung geflüstert: ‚Lassen wir es gut sein, wir wollen es doch schön haben.‘

Dabei meint die für die Demokratie lebensnotwendige Form des Streitens zunächst einmal die verbale Auseinandersetzung im Sinne eines Disputs, der daraus resultiert, dass zwei (oder mehr) Menschen sich bezüglich einer Sache nicht einig sind. Ein Blick in die Philosophiegeschichte zeigt, dass es dabei durchaus hoch hergehen kann: Bei der Davoser Disputation stritten die Philosophen Martin Heidegger und Ernst Cassirer 1929 ausgehend von der Feststellung miteinander, dass durch den Ersten Weltkrieg Grundlagen der herrschenden Weltanschauung und vor allem der Anthropologie in Frage gestellt worden waren. Die beiden großen Philosophen mit kontroversen Grundhaltungen stritten nicht nur über die doch sehr grundsätzliche Frage ‚Was ist der Mensch?‘, sondern ebenso, so wurde es zumindest später gedeutet, über unterschiedliche politische Visionen für ein kommendes Deutschland. Obwohl es hier also zumindest aus der Perspektive der Streitenden um für sie grundlegende Fragen und widerstreitende Positionen ging, berichten Zeitzeugen, dass der Ton der Disputation äußerst kollegial und von Respekt geprägt gewesen sei. Ziel der Disputation war es nämlich nicht, aufeinander los- sondern aufeinander zu zugehen.

In diesem philosophischen Sinne stellt Streit also eine Kommunikationsmethode dar, die nicht auf Einigung, sondern auf Verständigung zielt. Diese Funktion von Streit als Kunst des produktiven – und nicht destruktiven! – Widerspruchs (Eva von Redecker) gilt es wiederzuentdecken. Denn eine Streitkultur, die das Gegeneinander produktiv nutzt, um Gegensätze herauszuarbeiten, produziert ein für Demokratie essenzielles Miteinander, ohne dabei auf Vereinheitlichung oder erzwungenen Konsens abzuzielen. Derartiger Streit muss keine Lösung herbeiführen, sondern er dient dazu, einander besser zu verstehen und kann so als notwendiger Akt gegenseitiger Anerkennung (Hannah Arendt) betrachtet werden. Wenn es nun darum geht, einander besser zu verstehen, aneinander zu wachsen und vielleicht sogar im Streit voneinander zu lernen, dann kann und darf am Ende einer streiterischen Auseinandersetzung durchaus ein Dissens stehen, den es auszuhalten gilt. Streit darf also mit dem Satz enden: ‚We agree to disagree‘.

Um destruktiven Formen des Streits vorzubeugen, bedarf es ein wenig Mut sich auszusetzen – und es braucht Kompetenzen, die erlernt werden wollen. Es braucht den richtigen Abstand zu sich selbst und zu den eigenen Gefühlen – insbesondere dann, wenn eine unmittelbare Betroffenheit vorliegt –, es braucht die Fähigkeit, einen zum Disput stehenden Gegenstand im Geist zu drehen und zu wenden, und ihn aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, denn es gilt der Grundsatz: Widersprich nicht, bevor Du nicht widerdacht hast (Martin Anderson-Nexö). Wer streiten will, muss lernen, im Sinne der Perspektivendifferenz die Meinungen anderer zu hören und ernst zu nehmen, und er muss lernen Gegensätze, Mehrdeutigkeiten und Meinungspluralität auszuhalten.
Diese Kompetenzen zu fördern und einen Raum für Streit zur Verfügung zu stellen, ist nicht zuletzt Aufgabe der einer demokratischen Gesellschaft verpflichteten Akademie Franz Hitze Haus. Wir bemühen uns zu streiten um das, was uns unbedingt angeht; denn nicht nur die konkrete Gestaltung unseres Zusammenlebens steht zur Debatte, es ist zunehmend die Demokratie selbst, für die es gefährlich wird – und vielleicht können wir sie nur durch Streit retten.

In der Akademie machen wir immer wieder die Erfahrung: Es lohnt sich zu streiten. Fangen Sie einfach irgendwo an, mit Sinn und Verstand, aber auch mit Frohmut und Lust, denn „[w]ir brauchen keinen Konsens, um miteinander zu arbeiten [und zu leben] – sondern Hoffnung und Vertrauen“ (Meredith Haaf, Streit! Eine Aufforderung, München 2018, 282). Probieren Sie sich aus, lernen Sie dazu – miteinander im Gegeneinander, gerne bei uns in der Akademie.